Es ist ein Tag, irgendwann im Sommer. Der Zug hält an einem Ort, von dem man meinen könnte, es sei schon immer der friedlichste Ort auf Erden gewesen – an dem die Probleme nie größer waren als die laute Musik der Nachbarn oder der ungemähte Rasen. Alles sieht gleich aus. Aber trotz der Postkartenidylle im schönen Ort Fürstenberg zwischen Schwedtsee und Havel trügt der Schein. Zahlreiche Hinweisschilder, Markierungen am Boden und nicht zuletzt der Blick auf einen riesigen Schornstein auf der anderen Seite des Sees erinnern einen daran, dass man sich im Ort des größten Frauen-Konzentrationslagers zur Zeit des Nationalsozialismus befindet: in Ravensbrück. Hier werden wir, eine Gruppe Jugendlicher und junger Erwachsener aus der ganzen Bundesrepublik, in einem Begegnungsseminar der Hildegard-Hansche-Stiftung vier Tage verbringen, den Ort kennenlernen und mit Überlebenden ins Gespräch kommen. Meine Erwartungen? Geschichte nicht nur erfahren, sondern auch fühlen und dadurch verstehen zu können.
Der Tag beginnt mit einer Führung über das Gelände. Zwar weiß ich, wo ich bin, doch es scheint unfassbar schön, gar nicht so grau, wie man den Ort von alten
Fotografien kennt. Die Natur hat sich viel zurückerobert.
Das Innere eines der Führerhäuser dagegen scheint nahezu unberührt. Mit einem Foto vergleichen wir, wie es damals darin aussah und wie es heute aussieht. Ein Schauer durchfährt mich, als ich feststelle, dass der Boden noch der gleiche ist. Dort, wo ich stehe, standen einmal SS-Männer und beobachteten Häftlinge auf dem Vorplatz bei der Ankunft. 28.000 Menschen haben Ravensbrück zwischen 1939 und 1945 nicht mehr lebend verlassen.
Die hochsommerlichen Temperaturen sorgen für Hitzeflimmern. Kleine, graue Dunstschwaden, die über einem beinahe unendlichen Feld aus Asche liegen. Natürlich ist es keine richtige Asche, wir gehen über Millionen und Abermillionen kleiner grauer Steinchen, die mit Rillen und Unebenheiten übersät sind. Unter unseren Füßen knirschen sie.
Entlang der äußersten Barackenreihe stehen Bäume, die uns die Zeit überlebte Hoffnungsschimmer und Leben zeigen. Seit Milliarden Jahren werden Menschen geboren, um leben zu können, warum durften sie es hier nicht mehr? Wer stellt sich hin und nimmt sich das Recht, Menschen das Leben zu verbieten? Sich über sie zu stellen und zu sagen: „Bis hierhin und nicht weiter, wir dürfen euch jetzt ermorden!“ Wer übernimmt die Verantwortung für einen Ort, an dem zwischen Januar und April 1945 in einer Gaskammer 6.000 Menschen ermordet, von 1939 bis 1945 drei auf einmal im Krematorium verbrannt und Zehntausende über Monate und Jahre hinweg gequält und gefoltert wurden?
Die unendliche Weite des Sees hat etwas Befreiendes. Die Mauer auf der anderen Seite ist jedoch nah genug, um einem bewusst zu machen, dass man nicht an einem freien Ort ist. Wir hinterlassen alle Spuren auf dem Schotter und je mehr Spuren wir hinterlassen, denke ich, desto weiter lassen wir die Gräueltaten dieses Ortes hinter uns. Der Anblick des Zellentraktes kann mich kaum noch schocken – nur als ich am Ende der Führung das Krematorium sehe, bleibt mir wieder fast das Herz stehen. Der Mensch ist zu viel in der Lage.
Am Nachmittag treffen wir zum ersten Mal auf die Überlebenden. Eigentlich ein unpassendes Wort, denn es beschränkt die drei Damen vor uns nur auf diese Tatsache: Sie hatten das Glück, dass ihr Leben danach weiterging. Mein Blick fällt auf den Arm einer der Frauen. In schwarzer Schrift ist darauf eine Nummer tätowiert und sie erzählt von der Zeit in Auschwitz, bevor sie nach Ravensbrück kam. Da ist so viel, was ihr genommen worden ist, so viel, was sie sich nicht zurückholen kann.
Wir sehen uns ein wenig in der Hauptausstellung um. Es ist vielleicht einer der beruhigendsten Orte des Geländes, denn wenn man nicht an der freien Luft ist, fällt es einem ein bisschen leichter zu vergessen, wo man sich befindet.
Abends, als wir zum Schlafen wieder in die Häuser gehen, können wir das nicht. Wir sind nicht die ersten, die hier wohnen. Vor 70 Jahren sind es die Aufseherinnen des Konzentrationslagers gewesen, die in den Abend- und Nachtstunden Zeit zum Ruhen suchten. Tagsüber konnte ich das verdrängen, aber nicht in der Nacht, wenn die eigenen Schritte durch die Dunkelheit des leeren Treppenhauses hallen. Ein Tag voller Eindrücke, ein Tag voller Emotionen, ein Tag voller Gedanken. Und wä
hrend ich nachts um vier, um fünf, um sechs aufwache und aus dem Fenster schaue, sehe ich der Vergangenheit ins Auge. Kalt und durchdringend starrt sie zurück.
Am nächsten Tag reden wir mit je einer Zeitzeugin über ihr Leben vor Ravensbrück und reflektieren anschließend in Gruppen darüber. Stark emotional wird es nicht. Aber während sie spricht, glaube ich noch Hass und Verzweiflung in ihrer Stimme zu hören. Ich weiß, dass man nicht hassen soll, aber auch ich tue es trotzdem. Bekomme noch mehr Wut auf die Nationalsozialisten, weil die sich dazu befugt sahen, Menschen zu zerstören, von denen jeder Einzelne eine Geschichte in sich trug. Die Erlaubnis dazu darf sich keiner nehmen, absolut niemand.
Bei einer Wanderung an die Havel am Nachmittag gehen wir am Ufer des Schwedtsees entlang. Von dort sieht man den steinernen Schornstein des Krematoriums. Ich beginne mich zu fragen, was man damals eigentlich gedacht hat: Kann man sich wirklich mit der Erklärung zufrieden geben, es würde sich um das Gebäude einer Fabrik oder Bäckerei handeln? Auch dann noch, wenn man regelmäßig lange Züge der Häftlinge durch den Ort hat gehen sehen?
Wir diskutieren darüber, ob man alle Menschen die damals in Fürstenberg lebten, in Opfer und Täter einteilen kann, ob sich die Einwohner durch Untätigkeit mitschuldig gemacht haben. Für mich sind die Weggucker nicht die wirklichen Täter – weil das diejenigen, die andere Menschen wirklich zerstört haben, verharmlosen würde. Auf der anderen Seite kann keiner der Fürstenberger behaupten, er habe nichts gewusst. Ein Blick über den See hat genügt.
Auch am nächsten Tag reden wir mit unserer Zeitzeugin. Sie erzählt von der Zeit in Ravensbrück, der Befreiung im April 1945 und dem Leben danach. Wir wählen uns in Workshopgruppen ein und gemeinsam mit meiner Gruppe besichtige ich die verbliebenen Fundamente und Baracken des Siemensgeländes. Auch unsere Zeitzeugin hat hier Monate verbracht, um unter unwürdigen Bedingungen Gerätschaften herzustellen oder weiterzuverarbeiten.
Mit jedem Tag wird einem bewusster, wo man ist und was hier passiert ist. Mit jedem Tag, an dem man weitere Orte und Außenstellen des KZ Ravensbrück sieht, jedem Tag, an dem man die Zeitzeugen besser kennen lernt und sie ein wenig mehr von ihrer Geschichte erzählen. Jeden Tag kommt die Ungeheuerlichkeit zurück. Wenn jemand sagt, „so etwas solle nicht nochmal passieren“, nutzt er eine falsche Ausdrucksweise. „Passieren“ beinhaltet etwas Entschuldigendes, als wäre eine Massenvernichtung etwas gewesen, in das man irgendwie hineinrutscht ist, aber nichts dafür kann, niemand Verantwortung zu übernehmen braucht. „Passiert“ ist es also nicht, es ist geschehen. Ich verstehe noch immer nicht, wie es überhaupt so weit kommen konnte, dass so etwas geschieht – aber ich weiß, dass es nicht einfach „passiert“ ist.
Trotzdem möchte ich es noch einmal auf mich ganz alleine wirken lassen. Es dämmert bereits, als ich das Aschefeld spät abends noch einmal betrete. Der Himmel ist leicht bedeckt, es ist abzusehen, dass es in dieser Nacht noch regnen wird. Keine Farben, alles ist grau – außer der langen Baumreihe, die ans andere Ende und doch in die Unendlichkeit führt. Es fällt mir schwer, vorzustellen, wie dieser Platz aussieht, wenn sich hier Menschen drängen und in jeder Baracke mehrere Menschen auf einem Quadratmeter leben. Kann ich es noch „leben“ nennen? Ist es noch ein Leben, unter dieser Umständen dort zu sein? Unsere Zeitzeugin hatte erzählt, dass man kein Gefühl mehr hat für die vergehende Zeit. Durchhalten. Einen Tag überleben und hoffen, dass man nach den wenigen Stunden Schlaf wieder aufwachen kann – und nicht in einen ewigen Schlaf gefallen ist.
Schließlich verlasse ich das Aschefeld und finde mich am Ufer des Sees wieder, und am Krematorium. Ich gehe auf die andere Seite, sehe, dass die Tür offen steht. Am Geländer hängt eine Kette mit unzähligen Kranichen. Ich setze einen Fuß nach vorne und möchte mir das Innere genauer anschauen. Aber ich kann es nicht. Die Füße erstarren, einer über der Schwelle und einer noch davor. Es geht nicht. Es gelingt mir nicht, da hin zu gehen, wo keine Zweifel mehr daran bestehen, was hier geschah. Die drei Öfen stehen direkt vor mir, in den Öffnungen noch Barren mit denen die toten Körper in die Flammen geschoben worden sind. Betritt man das Gebäude glaubt man fast, noch den süßlichen Geruch verbrannter Menschen wahrnehmen zu können. Manchmal spielt einem die Phantasie grausame Streiche.
Das Rosenbeet bietet mir für ein paar Minuten Zuflucht.
Es ist merkwürdig, welche Bedeutung die vier Elemente für Ravensbrück bekommen haben. Die Unterbringung in den Baracken – wie lebendig begraben, nur schlimmer. Erde. Brennende Körper im Krematorium. Feuer. Luft, die das Feuer nährt. Und Asche, die auf Höhe des heutigen Monumentes in den See geschüttet wurde. Wasser.
Am letzten Tag treffen wir uns noch für kurze Absprachen in den Workshopgruppen und gehen dann gemeinsam quer über das Aschefeld in die alte Schneiderei. Skulpturen von Inhaftierten stehen am Eingang und starren auf uns hinab. Eine Gruppe von uns Generationenforumsteilnehmern rezitiert Gedichte, die ein paar der Inhaftierten auf eingeschmuggelten Blättern Papier oder Toilettenpapier geschrieben haben. Eine andere Gruppe erzählt uns von den „Child-survivors“ – Kindern, die nach Ravensbrück deportiert wurden und es glücklicherweise überlebten. Im Männerlager östlich des Stammlagers und in den Überresten der Siemens-Werkhallen südlich davon zitieren wir aus Berichten, die überlebende Inhaftierte nach der Befreiung des KZ verfasst haben. „Es ist vorbei“, denke ich.
Jeder von uns trägt eine Rose und während wir sie wie ein farbenfrohes Blütenmeer als Kontrast zur Asche von damals auf dem Schwedtsee schwimmen lassen, gedenkt jeder still und auf seine eigene Art. Ich habe gelernt, dass das Gedenken auch eine unfassbar große Verantwortung ist.
Ich weiß, dass mich das, was ich hier gesehen habe, nicht mehr loslassen wird. In Ravensbrück zu sein ist nicht das gleiche wie davon in Büchern zu lesen oder es in Filmen zu sehen. Denn in Ravensbrück zu sein bedeutet, fühlen und verstehen zu lernen, und zwar genau so, wie ich es mir von Anfang an erhoffte. In Ravensbrück gewesen zu sein heißt, schätzen zu lernen, was man hat und die Menschen um einen herum wieder ein bisschen besser zu verstehen. Denn jeder hat seine eigene Geschichte, die ihn zu dem macht, der er macht. Fangt an zu fragen und zuzuhören, um einander zu begreifen.
Ich bin sehr glücklich, dass ich einer Zeitzeugin persönlich begegnen durfte. Leider wird es diese Gelegenheit bald nicht mehr geben. Allein die Hoffnung, dass solche Verbrechen auf diesem Boden nicht mehr passieren, tröstet mich.
Text und Fotos: Linn (11-2)
Dieser Beitrag ist auch ab Donnerstag, dem 17.12.2015 in unserer Ausgabe der Schülerzeitung, der SCORPION 33 zu lesen.